AfD Rechtsextremismus
Was von der AfD zu erwarten ist
Die AfD darf ihren Parteitag in Essen abhalten, trotz der Annahme, dass es zu Äußerungsdelikten kommt. Der Grund: Man könne einen Rechtsverstoß nicht sicher genug vorhersagen. (K)ein Blick in die Glaskugel mit Andreas Kemper.
Ich sitze im Zug nach Köln, geplant ist ein Vortrag zu organisiertem Antifeminismus, Narrativen und Netzwerken. Gestern hatte ich einen ähnlichen Vortrag an der TU Braunschweig. Morgen, Freitag, geht’s nach Frankfurt am Main mit dem Thema AfD. Wenn ich zu Hause bin, recherchiere ich und kümmere mich um Einladungen, Rechnungen, viele Gespräche. Oftmals führe ich unbezahlte Hintergrundgespräche mit Journalist*innen.
Sowas ist der Alltag. Ungewöhnlich war hingegen ein Anruf der Stadt Essen im April. Ich wurde gefragt, ob zu erwarten sei, dass während des Bundesparteitags der AfD in der Grugahalle Straftaten zu erwarten seien, beispielsweise in Form eines Äußerungsdelikts. Ja, kann man von ausgehen, aber mit Sicherheit könne man das nicht beantworten, war meine Einschätzung. Ob ich bereit sei, ein Gutachten dazuzuschreiben, das müsse aber in wenigen Wochen fertiggestellt sein.
Demo gegen den AfD-Parteitag in Essen
Vom 28. bis 30. Juni 2024 trifft sich die AfD in Essen zum Bundesparteitag. Mitten im Ruhrgebiet wollen sie ihren Rassismus und ihre Nazi-Parolen verbreiten. Ein breites Bündnis aus Gewerkschaften, Parteien, Menschen aus der Klimabewegung und aus antirassistischen Gruppen stellt sich der rechtsextremen Partei entgegen.
Aus dem ganzen Bundesgebiet kommen Menschen gemeinsam nach Essen. Finde auf der Aktionsseite mehr Infos zu Fahrgemeinschaften und dem Programm.
Ein ungewöhnlicher Auftrag
Ich funktioniere nicht so, dass ich überschlage, wie viel Zeit ich habe; ich könnte es noch nicht einmal berechnen. Aber ich hatte Lust, mir das genauer anzuschauen und habe deshalb sofort zugesagt. Innerhalb von Sekunden ratterte es in meinem Gehirn: Radikalisierungstendenzen der AfD – einfach aufzuzeigen, langweilig; Zunahme der SA-Losung „Alles für Deutschland“ – schon spannender, da gibt es bereits viel, das konkreter zu dokumentieren, wäre interessant und sinnvoll; Unrechtsbewusstsein in der AfD, die nehmen den Staat doch gar nicht ernst und behaupten, wir lebten in einer Diktatur, in einer DDR 2.0 – lässt sich leicht aufzeigen, das wäre ein zusätzliches Argument; dass die SA-Losung verboten ist, schert einige AfDler nicht unbedingt, sondern eher die Abwägung: „Wie viel Geld bin ich bereit zu zahlen, wenn ich dadurch zum Helden der AfD werde?“ – auch eher langweilig.
Und dann natürlich der Fall Höcke. Das war der interessanteste Punkt. Wichtig wäre, nicht einfach nur Prozesse und Tendenzen darzustellen, sondern auch Intentionen herauszuarbeiten.
Höcke wurde zu 100 Tagessätzen á 130 Euro verurteilt wegen der öffentlichen Verwendung der SA-Parole „Alles für Deutschland“. Ein Artikel von mir zur NS-Rhetorik von Höcke scheint eine Rolle gespielt zu haben. Die Staatsanwaltschaft argumentierte, dass Höcke sehr wohl NS-Begriffe kenne. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig, aber es kommt direkt ein zweiter Prozess hinterher, bevor der Revisionsprozess kommt.
Diesmal handelt es sich um eine Wiederholungstat: Höcke rief seine Zuhörer*innen auf, in seine Parole, die er nicht zu Ende sprach, einzufallen. Was aber beim ersten Prozess schon fehlte, war der Hinweis auf seine Neonazi-Nähe und die Tatsache, dass „Alles für Deutschland“ nicht nur ein SA-Spruch, sondern vor allem auch DIE Neonazi-Losung war. Darüber hatte ich in meinem letzten Beitrag für den Campact-Blog bereits geschrieben.
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Gründliche Studie, aber kein Blick in die Glaskugel
Die meiste Zeit während der Erstellung der Expertise steckte ich in die Recherche von Neonazi-Sprüchen mit der Losung „Alles für Deutschland“. Eigentlich ging es mir konkret um zwei Neonazis, nämlich den NPD-Ideologen Jürgen Gansel und den NPD-Aktivisten Thorsten Heise. Beide verwendeten den SA-Spruch. Und während Heises Bekanntschaft mit Höcke vielfach belegt ist, konnte ich bei Gansel darauf verweisen, dass beide sich beim Studium über den Weg gelaufen sein müssen – und, dass sich bei Höcke eine ganze Reihe von ungewöhnlichen Begrifflichkeiten findet, die vorher Gansel formulierte.
Die Sache war also klar. Es gab …
- ungebrochene Radikalisierungsprozesse in der AfD – der bekannteste übrigens in der Grugahalle Essen beim AfD-Bundesparteitag 2015.
- damit einhergehend zunehmende Tendenz, Neonazi-Sprüche zu äußern. Erst nach Erscheinen der Studie wurde deutlich, wie sehr auch von AfDlern der Spruch „Deutschland den Deutschen! Ausländer raus!“ nach dem Video von Sylt gehypt wurde.
- bereits beim letzten Parteitag den Fall, dass ein AfD-Delegierter vom Parteitag aus „Alles für Deutschland“ postete.
- Äußerungen von führenden AfDler*innen wie Beatrix von Storch und Björn Höcke, dass sich die Bundesrepublik Deutschland wie eine Diktatur anfühle, bzw. jedenfalls nicht wie ein Rechtsstaat.
- keine Reue, insbesondere gegenüber der Äußerung der SA-Losung „Alles für Deutschland“. Es wird weiter behauptet, das sei ein ganz normaler Spruch.
- der relevanteste Punkt: das Herausarbeiten der Mission von Björn Höcke. Unter einem Pseudonym machte er deutlich, dass er auf eine Revolution hofft, um an die NS-„Antiglobalisierungsbewegung“ (sprich: Bewegung gegen das „Internationale Judentum“) anzuknüpfen. Dieser Auftrag geht einher mit der Mission, die NS-Sprache wieder sprechbar zu machen. Und in der NS-Sprache ist die SA- und die Neonazi-Losung „Alles für Deutschland“ sehr zentral.
All dies zusammen mit dem Hinweis, dass Höcke zwei Tage vor dem Bundesparteitag seinen nächsten Prozess zum Äußerungsdelikt „Alles für Deutschland“ hat und die AfD bislang eher trotzig als reuig reagiert hat, legt eine Erwartungshaltung nahe, dass es während des AfD-Parteitags mit 600 Delegierten zu diesem Äußerungsdelikt kommen kann (wie gesagt: das ist bereits beim letzten Parteitag passiert). Allerdings habe ich in meinem 48-seitigen Gutachten mit über einhundert Einzelnachweisen eingeräumt, dass ich nicht über eine Glaskugel verfüge. Ich könne nur versuchen, aus der Gegenwart in die Zukunft zu extrapolieren. Ob es wirklich zu diesem Äußerungsdelikt kommt, ist nicht hundertprozentig vorhersehbar.
Die Stadt Essen forderte die AfD daraufhin aufgrund meiner Untersuchung auf, Äußerungsdelikte zu unterbinden. Bei Zuwiderhandlung solle sie für jede entsprechende Äußerung 500.000 Euro Strafgeld zahlen. Die AfD wollte das nicht unterschreiben, die Stadt Essen kündigte auf Grundlage eines Ratsbeschlusses von 71 zu 7 Stimmen bei 2 Enthaltungen den Vertrag zur Nutzung der Grugahalle. Die AfD, vertreten durch die Anwaltskanzlei Höcker, klagte und das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen gab der AfD recht.
Der AfD-Parteitag darf stattfinden
Das Problem war nicht meine Studie. Sondern das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen hatte eine andere Rechtsauffassung als die Stadt Essen. Eigentlich ist es üblich, Veranstaltungen aufgrund von Erwartungen abzusagen. Veranstaltungen fallen aus, weil Unwetter erwartet werden, Demonstrationen dürfen nicht stattfinden, weil Ausschreitungen erwartet werden, und so weiter. Hier handelte es sich allerdings nicht um eine normale Veranstaltung, sondern um eine Parteiveranstaltung. Und Parteiveranstaltungen seien sehr viel deutlicher geschützt als andere Veranstaltungen. Daher würde es nicht ausreichen, mit einem Gutachten herauszuarbeiten, dass Delikte erwartet werden. Sondern es müsste herausgearbeitet werden, dass diese mit einer sehr großen Wahrscheinlichkeit stattfinden werden.
Hier gab das Gericht auch ein Beispiel an:
Selbst wenn im Vorfeld Vortrags-Manuskripte mit Äußerungsdelikten aufgetaucht wären – es also eine gesicherte Absicht gab, diese vorzulesen – hätte die Stadt Essen die Nutzung der Halle nicht unterbinden dürfen. Sie hätte die Bedingung aussprechen können, dass die Texte nicht vorgelesen werden dürfen. Die AfD hätte dieser Bedingung dann aber auch nicht aktiv zustimmen müssen, um den Mietvertrag mit der Halle zu behalten. Denn ob die Aussagen getätigt werden, entscheide sich ja erst in dem Moment, in dem die Vorträge gehalten werden. Spontane Änderungen an Manuskripten oder auch ungeplante Wortbeiträge aus dem Plenum seien nicht unüblich für Parteiveranstaltungen.
Mit anderen Worten: Nur auf Grundlage einer Methodik der Zukunftsvorhersage wie etwa im Science Fiction „Minority Report“ oder mit einer Glaskugelmethodik der Wahrsagerei wäre es möglich, gesichert genug von einem Äußerungsdelikt auszugehen, welches erfolgen werde. Entsprechend monierte der Richter des Verwaltungsgerichtes, mein Gutachten haben weder die notwendige Methode aufgezeigt, noch eine ausreichend empirische Grundlage enthalten. Ein Äußerungsdelikt könne stattfinden oder auch nicht. Damit gehe ich d’accord; völlige Übereinstimmung. Nur war das auch gar nicht das Ziel meiner Studie.
Vielleicht schaut sich ein*e Journalist*in das Ganze noch einmal genauer an. Hier geht’s zur Studie. Würde mich freuen. Denn das Material der Studie könnte auch für den nächsten Höcke-Prozess von Bedeutung sein. Und es ist alles belegt.
Sooo… nun bin ich gleich in Köln. Anderes Thema.