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Gemischte Gefühle für die EM

Am Sonntag endet die Fußball-Europameisterschaft der Männer. Und mit ihr hoffentlich auch die politische Clownerei, die sie mitbrachte.

Nationalspieler der Türkei jubeln nach dem gewonnenen EM-Spiel gegen Österreich.
Fußball ist ein Spiel der Emotionen: Hier jubeln Nationalspieler der Türkei (Mitte) nach dem gewonnenen EM-Spiel gegen die Nationalmannschaft von Österreich (in Rot). Foto: IMAGO / PanoramiC

Neulich entwickelte sich eine neue Liebe für Fußball in mir. Ich schaue die Spiele sporadisch und gelassen und lache dabei viel. Vergangenes Jahr am 29. November habe ich das UEFA-Champions-League-Spiel von Galatasaray Istanbul und Manchester United geschaut. Bei einem großen Aufruhr vor einem Tor von Galatasaray musste ich sehr lange und sehr laut lachen – weil es so ein genussvoller Moment war, wie Boey auf dem Boden lag und übertrieben schon fast um sein Leben kämpfte. Da kam meine Mutter ins Wohnzimmer und fragte mich: „Schaust du Fußball oder etwa eine Comedy?“ Tja, Fußball ist lustig.

Dass ich die Spiele gelassen schauen kann liegt daran, dass ich kein Fan von einer bestimmten Fußball-Mannschaft bin. Ich schätze so macht das bestimmt mehr Spaß. Ich kann mich nämlich einfach auf das Spiel konzentrieren, ohne die Anspannung, den Stress der Erwartung zu erleben, dass meine Mannschaft gewinnt. Ich empfinde diesen Druck gar nicht und freue mich für alle, die gewinnen, und habe Mitleid mit allen, die verlieren.

…in der Regel. Bei der Europameisterschaft, die am kommenden Sonntag endet, ist es bisher nicht so gewesen. Ich bin nicht unparteiisch geblieben und entwickelte diesbezüglich sehr gemischte Gefühlte.

Politik und Fußball: Eine enge Verbindung

Viele sagen, dass Politik nichts mit Fußball zu tun haben dürfe. Dabei ist alles, was Fußball betrifft, politisch – von den Gehältern der Spieler und Trainer bis hin zu dem der Bauarbeiter*innen, die ihre Stadien bauen. Von den Korruptionsvorwürfen bis hin zu den privaten Beziehungen der Spieler, die oft von Macht und Gewalt gekennzeichnet sind. Die vielen Flüge der Mannschaften, die sie selbst für die kürzesten Strecken antreten und ihre Folgen für den Planeten.

Bei internationalen Spielen treten politische und historische Anspannungen nochmal unmissverständlich ins Tageslicht. Bei den diesjährigen Spielen der EM gab es so einige Vorfälle. Während des Eröffnungsspiels gegen Schottland schrien Deutsche rassistische Parolen und zeigten den Hitlergruß. Dann zeigten Ungarn-Fans den Hitlergruß, warum auch immer. Im Spiel gegen Polen entrollten Österreicher*innen ein Banner mit dem Slogan der Identitären Bewegung (IB) „Defend Europe“. Vor dem Spiel gegen die Türkei sangen sie „Deutschland den Deutschen, Ausländer raus“, bevor sie raus flogen, hehe.

Der türkische Nationalspieler Merih Demiral zeigte nach dem zweiten Tor gegen Österreich den Wolfsgruß – ein Symbol des türkischen Rechtsextremismus. Ein albanischer Spieler stachelte Fans auf, rassistisch gegen Kroatien zu singen. Ein kosovarischer Reporter zeigte während des Spiels England gegen Serbien den Doppeladler. Insgesamt ist es für alle extrem peinlich gelaufen. Eine richtige politische Clownerei.

Gefühl von Überlegenheit ist Teil des Rassismus

Diese Peinlichkeit ist auch Teil meiner gemischten Gefühle über die EM. Ich bin offiziell, also auf dem Papier, Deutsche. Deutschland ist aber nicht meine emotionale Heimat, weil Deutschland es nicht sein wollte. Europa hat ein großes Problem mit verinnerlichter weißer Vorherrschaft, was dazu führt, dass es Gruppen, die es nicht als gleichberechtigt betrachtet, nicht ernst nimmt. Eine europäische Fußballmannschaft denkt vor einem Spiel gegen die Türkei vielleicht: „Ach, diese Gastarbeiter. Keine Bedrohung, nicht mal wirklich Konkurrenz.“ Ob sie das merken oder nicht, sei mal dahingestellt.

Der Schock, den man im Oktober 2023 im Gesicht der Engländer nach der Niederlage von Manchester United gegen Galatasaray sah, verriet auch genau das. „Wie kam es dazu, dass diese K*naken uns besiegen konnten“, so etwa. Und diese rassistische Unterschätzung war vermutlich auch der Grund, warum Österreich dieses Jahr gegen die Türkei verlor und aus der EM flog – denn die Türkei hat nicht besonders gut gespielt.

Bei internationalen Fußballspielen tendiere ich tatsächlich dazu, eher mit der Mannschaft, die weniger Macht hat als ihr Gegner, mitzufühlen und mitzufiebern, als absolut neutral zu bleiben. Das ist der Grund, warum ich eine gewisse Genugtuung empfand, als Österreich gegen die Türkei verlor. Und dann kam aber der Wolfsgruß. Und das macht den anderen Teil meiner gemischten Gefühle aus.

Ekel und Wut in Bezug auf diese Geste, auch noch am 31. Jahrestag des Sivas-Anschlags, bei dem ein nationalistischer und fundamentalistischer Mob ein Hotel, in dem ein alevitisches Kulturfestival stattfand, in Brand steckte und 33 alevitische Künstler*innen und zwei Hotelmitarbeiter*innen ermordete. Der Wolfsgruß symbolisiert die türkische und sunnitische Überlegenheit, die auch die Ideologie hinter dem Sivas-Anschlag war. Gut, dass Merih Demiral für zwei EM-Spiele suspendiert wurde.

Die Strategien durchschauen

Viele Türkei-Fans behaupten jetzt, dass niemand außer Demiral Konsequenzen zu tragen hätte – eine Lüge. Alle hier aufgezählten Taten haben Konsequenzen für alle Beteiligten; von Kündigungen bis hin zu polizeilichen Ermittlungen. Aber das Opfer zu spielen ist sehr praktisch, weil man so seine Verantwortung unter den Teppich kehren kann. Gut, dass wir diese Strategie kennen und nicht hereinfallen.

Ja, ich habe mir gewünscht, dass sich die türkische Mannschaft in der EM gegen die der Industrieländer durchsetzt. Das bedeutet aber nicht, dass ich dafür eine vermeintliche türkische Überlegenheit gutheiße, ganz im Gegenteil. Wenn die Türkei gegen eine kurdische oder armenische Mannschaft gespielt hätte, hätte ich mir gewünscht, dass die kurdische bzw. armenische Mannschaft gewinnt. Ein politisches Bewusstsein zu haben und ein Vermögen für Reflexion, ist nicht immer bequem und kann die einfachsten Momente sehr kompliziert machen. Aber genau diese Herausforderung ist das Schöne daran. Für die Zukunft wünsche ich mir ein Fußball ohne Rassismus – aber weiß, dass es den nie geben wird.

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Autor*innen

Sibel Schick kam 1985 in Antalya, der Türkei, auf die Welt und lebt seit 2009 in Deutschland. Sie ist Kolumnistin, Autorin und Journalistin. Schick gibt den monatlichen Newsletter "Saure Zeiten" heraus, in dem sie auch Autor*innen, deren Perspektiven in der traditionellen Medienlandschaft zu kurz kommen, einen Kolumnenplatz bietet. Ihr neues Buch „Weißen Feminismus canceln. Warum unser Feminismus feministischer werden muss“ erscheint am 27. September 2023 bei S. Fischer. Ihr Leseheft "Deutschland schaff’ ich ab. Ein Kartoffelgericht" erschien 2019 bei Sukultur und ihr Buch "Hallo, hört mich jemand?" veröffentlichte sie 2020 bei Edition Assemblage. Im Campact-Blog beschäftigte sie sich ein Jahr lang mit dem Thema Rassismus und Allyship, seit August 2023 schreibt sie eine Kolumne, die intersektional feministisch ist. Alle Beiträge

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