Wasser Bundestagswahl CDU Klimakrise SPD Antirassismus Klassenkampf Digitalisierung Medien WeAct

Liebe CDU: Hier verrutscht etwas

Bald ist Bundestagswahl – ein guter Anlass, einen genauen Blick auf die Pläne der Parteien zur Erinnerungspolitik zu wagen. Besonders bei der CDU deuten sich hier Verschiebungen an, die nichts Gutes verheißen.

Ein Schild aus Pappe wird auf der Demo mit dem Titel "München ist bunt" hochgehalten. Darauf steht: 1933 hat angerufen, die wollen ihre Nazis zurück. Wie die Parteien in ihren Wahlprogrammen mit dem Thema Erinnerungskultur umgehen, liest Du hier.
Am Wochenende demonstrierten wieder Tausende in ganz Deutschland gegen Rechtsextremismus und den Rechtsruck demokratischer Parteien. Foto: IMAGO / ZUMA Press Wire

Erinnern ist zutiefst persönlich. In dieser Blogreihe zur Erinnerungskultur taucht ein Gedanke immer wieder auf: Gedenktage und Erinnern sind wichtig, weil sie uns individuell zur Reflexion anregen, uns Fragen danach stellen, wie wir historische Verantwortung in unser individuelles Handeln übersetzen und Lehren aus Geschehenen ziehen. Nichtsdestotrotz nehmen wir uns heute den Raum, die andere, staatliche Seite des Erinnerns in den Blick zu nehmen – die tatsächliche Erinnerungs „politik“ und -„kultur“, wie sie den Parteien vorschwebt, die am 23. Februar in den Bundestag einziehen wollen. 

Wahlprogramme sind zunächst einmal Absichtserklärungen. Wir alle wissen, dass keine Partei alles umsetzen wird, was sie in ihrem Programm verspricht. Trotzdem geben Wahlprogramme interessante Einblicke, wie eine Partei tickt, welche Prioritäten sie (nicht) setzt und welche grundlegenden Vorstellungen sie von unserer Gesellschaft hat. Darum lohnt sich auch der Blick auf das etwas abseitige und nischige Thema der Erinnerungskultur in den Wahlprogrammen. Hier zeigt sich, auf welchen Umgang mit der Vergangenheit die Parteien ihre Visionen von der Zukunft aufbauen. Und: Wie sich die Absichtserklärungen zu Gedenken und Erinnern verändern, gibt Einblick in eine gefährliche Verschiebung. Werfen wir also einen Blick in die Wahlprogramme – und darauf, was sie uns darüber verraten, von welchem Vergangenheitsverständnis ausgehend die Parteien unsere politische Zukunft gestalten wollen.

Willkommen im Campact-Blog

Schön, dass Du hier bist! Campact ist eine Kampagnen-Organisation, mit der über 3,5 Millionen Menschen für progressive Politik streiten. Im Campact-Blog schreiben das Team und ausgezeichnete und versierte Gast-Autor*innen über Hintergründe und Einsichten zu progressiver Politik.

Bis hierhin alles so erwartbar

Zunächst das Erwartbare im Schnelldurchlauf. Das Grüne Programm widmet der Erinnerungskultur mehrere Absätze und schlägt sowohl konkrete Maßnahmen vor, als auch den großen Bogen, warum die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit eine wichtige Rolle für die Gegenwart spielt. „Wir müssen unsere Erinnerung wach halten – auch damit sie uns und unsere Demokratie wach hält. Wir tragen Verantwortung für unsere Geschichte – auch weil aus ihr die Chance auf eine gute Zukunft erwächst“, heißt es hier. Auch findet sich, neben wörtlichen Bezugnahmen auf die NS-Diktatur und das DDR-Regime, das Erinnern an rechte Gewalt in jüngerer Vergangenheit.

Die Linke bleibt kurz und knackig. „Wir setzen uns für eine antifaschistische Erinnerungskultur ein, um das Gedenken an die Opfer von damals und heute zu bewahren“. In der „antifaschistischen“ Natur der geforderten Erinnerungskultur findet sich auch hier eine größere Linie, die den Bogen von der Vergangenheit in die Gegenwart schlägt. 

Bei der SPD findet sich ein erinnerungspolitischer Gemischtwarenladen, der jedoch auch aktuelle Linien benennt: „Geschichtsverfälschungen und Desinformation gefährden die Demokratie im Kern. Deshalb brauchen wir eine bessere historische Bildung zur Stärkung des kritischen Geschichtsbewusstseins.“

Das BSW schweigt sich zum Thema komplett aus. Soweit, so vorhersehbar. Aber Achtung: Jetzt wird es wild.

CDU und FDP: Die Lücken sprechen Bände

Bei CDU und FDP lohnt sich nicht nur der Blick darauf, was im Programm steht, sondern vor allem auch, was nicht erwähnt wird. Das gilt umso mehr im Vergleich mit den entsprechenden Absätzen aus den Programmen von 2021. Hier deutet sich eine tiefgreifende Verschiebung an. 

Zunächst zur FDP. In dem kurzen Absatz, den die 4-Prozent-Partei der Erinnerungskultur widmet, liegt der Fokus klar auf der Bekämpfung von Antisemitismus. Spannend ist, dass weder die Shoah noch die NS-Zeit insgesamt erwähnt wird. Die geforderte Auseinandersetzung mit jüdischem Leben kommt komplett ohne historische Bezüge aus. Mehr noch: Die FDP fordert zwar eine Auseinandersetzung mit der Geschichte – allerdings der Geschichte Israels, nicht der Deutschlands. 

Eine historische deutsche Wegmarke wird dann doch explizit benannt – das DDR-Unrechtsregime. In ihrem letzten Wahlprogramm hatte die FDP hier noch die größeren historischen Linien im Blick. „Die Aufarbeitung und Vermittlung des Unrechts der beiden deutschen Diktaturen des Nationalsozialismus sowie der DDR bleibt eine kontinuierliche Aufgabe. Durch die Auseinandersetzung mit der Geschichte kann eine Sensibilisierung für den Wert der Freiheits- und Bürgerrechte geleistet werden.“ Davon ist jetzt nichts mehr zu finden. 

Eine absolut unverständliche Gleichsetzung

Diese Verschiebung – was wird benannt, was ausgeblendet und welches Verständnis von Vergangenheitsreflexion für die Gegenwart erwächst daraus – treibt die CDU auf die Spitze. Auch ihre gedenkpolitischen Überlegungen kommen ohne jede Nennung der NS-Zeit und der Shoah aus. Die (freundlich ausgedrückt) seltsame rhetorische Klammer, jüdisches Leben in den Blick zu nehmen, ohne Vergangenheitsbezüge zu benennen, findet sich auch in ihrem Programm. 

Nur an einer Stelle ist vage von den „beiden totalitären Regimen“ in Deutschland die Rede. Im Folgenden wird dann auch eins näher benannt: Die SED-Diktatur. Hier findet eine unverständliche Gleichsetzung statt – denn auch wenn die Auseinandersetzung mit dem SED-Unrecht natürlich eine wichtige Rolle in der deutschen Erinnerungskultur spielen sollte, bestehen doch große Unterschiede zwischen der DDR-Diktatur und dem Nazi-Totalitarismus. Diese beiden Systeme rhetorisch in einen Topf zu werfen und das, welches nicht in industriellem Massenmord gipfelte, deutlich prominenter zu betrachten, ist unverständlich. 

Und es wird noch absurder: Die CDU möchte die „Erinnerung an Flucht und Vertreibung stärken“. An sich eine gute Idee – damit meint sie aber nicht etwa die Vertreibung und Vernichtung jüdischer Menschen, politisch Engagierter, Homosexueller oder Sinti*zze und Romn*ja. Sie bezieht sich hier ausschließlich auf die binnenvertriebenen Deutschen nach der Niederlage im Zweiten Weltkrieg. Auch das ist an sich ein verständliches Anliegen. Immerhin waren zwischen 1945 und 1950 über zehn Millionen Deutsche auf der Flucht und die Erfahrung der Vertriebenen prägte zahllose Familien noch weit über die unmittelbaren Nachkriegsjahre hinaus. Unverständlich hingegen ist die gesamte historische Schwerpunktsetzung, die eine elegante Lücke lässt, wo es um den Grund für die Vertreibung dieser Geflüchteten geht. 

Leitkultur – was soll das sein?

Und: in den gedenkpolitischen Ansätzen der CDU hat sich ein weiteres interessantes Detail eingeschlichen. Hier heißt es: „Kulturelle Traditionen sind Teil unserer Leitkultur. Orte der Kultur wie Museen, Theater, Konzerthäuser, religiöse Einrichtungen, Bibliotheken, Archive oder Gedenkstätten bewahren unsere Traditionen und Bräuche und tragen dazu bei, diese lebendig zu gestalten. Sie gilt es zu erhalten und zu stärken“. Gedenkstätten haben hier also die Funktion, Tradition zu pflegen und sich in eine „Leitkultur“ anzupassen. Was genau unter Leitkultur zu verstehen ist, bleibt unklar – aber Gedenkstätten (und Kultur insgesamt, for that matter) als Teil der Brauchtumspflege zu betrachten, ist schon ein ziemlich starkes Stück.

Zumal die CDU in ihrem letzten Wahlprogramm zur Bundestagswahl 2021 durchaus noch deutlicher herausstellte, warum historische Reflexion wichtig sein sollte. Dort findet sich sowohl ein expliziter Bezug zur NS-Zeit „zur Schärfung des Bewusstseins der nachkommenden Generationen gegen Antisemitismus, Rassismus und Extremismus“ und ein Bekenntnis dazu, dass Erinnerungspolitik dazu beiträgt, die „Kräfte der Zivilgesellschaft und die Wehrhaftigkeit unserer Demokratie zu stärken“. Von wehrhafter Zivilgesellschaft zur Stärkung von Bräuchen und deutscher Leitkultur in nur vier Jahren – bei der CDU ist offensichtlich erinnerungspolitisch einiges verrutscht. Insofern ist es nur passend, dass CDU-Chef Friedrich Merz im Bundestag Mehrheiten mit der AfD sucht – am gleichen Tag, an dem im Bundestag den Opfern der Shoah gedacht wird. Das zeigt wohl recht(s) deutlich, wo die CDU ihre Leitkultur sieht. 


PS: Bei der AfD im Programm steht übrigens, man solle sich doch statt auf die Tiefpunkte lieber auf die Höhepunkte der deutschen Geschichte konzentrieren. Dazu will sie eine „ausgewogene“ Erinnerungskultur, die der deutschen Identitätsbildung dient, mehr Brauchtumspflege und mehr Gedenken an die deutschen Binnenvertriebenen. Das passt gut zu der üblichen, unsäglichen AfD-Mischung aus Revisionismus und Geschichtskitsch; nur, dass man hier eben nichts anderes erwartet – von Konservativen hingegen eigentlich schon.

TEILEN

Autor*innen

Victoria Gulde ist seit 2018 Campaignerin bei Campact. Als Teil des Kampagnen-Teams gegen Rechtsextremismus setzt sie sich gegen die Normalisierung rechten Gedankenguts ein. Sie hat Politikwissenschaft, Kommunikationswissenschaft und Internationale Beziehungen studiert. Für den Campact-Blog schreibt sie über Gedenktage und die Bedeutung einer lebendigen Erinnerungskultur. Alle Beiträge

Auch interessant

Bundestagswahl, CDU, Klimakrise, SPD Koalitionsverhandlungen und Klima – eine Krise Rechtsextremismus, WeAct Erfolg: Rechtsextreme raus aus dem Bundestag AfD, Demokratie, Rechtsextremismus So greifen AfD und Co. die Zivilgesellschaft an AfD, Rechtsextremismus Gutachten prüft AfD-Verbot  AfD, Rechtsextremismus So rechtsextrem ist die AfD im Bundestag Bundestagswahl, Feminismus Weniger Frauen im Bundestag: Warum das gefährlich ist Globale Gesellschaft, Klassismus, Rechtsextremismus Wo sich Antifeministen, christliche Fundamentalisten und Demokratiefeinde treffen Bundestagswahl, Rechtsextremismus Wie Du Dich dem Rechtsruck entgegenstellen kannst AfD, Bundestagswahl Gegen den Gewöhnungseffekt Bundestagswahl, Montagslächeln Montagslächeln: Kanzler Merz – Ein neues Licht am Horizont?