AfD Rechtsextremismus Soziales Klimakrise Montagslächeln Feminismus Digitalisierung WeAct Demokratie Datenschutz

Die politischen Weichen sind gestellt, der Weg geebnet. Das deutsche Sozialsystem gilt als gerettet, der Sozialstaat als nicht mehr gefährdet. Das angebliche „Fest der Faulenzenden“ ist vorbei. 

Bürgergeld wird zur Grundsicherung

Die schwarz-rote Bundesregierung hat das Bürgergeld verschärft und in Grundsicherung umbenannt. Wer jetzt nicht an die Rettung des Sozialstaates durch eine neoliberale Marktpolitik glaubt, muss offenbar an einem solidarischen Irrglauben festhalten. Eine Entsolidarisierung wird auch der AfD-Klientel, die von Leistungserwartungen und Sozialneid getrieben ist, nicht gefallen.

Diese Zuspitzung ist keine Zuspitzung. Sie ist Realpolitik. Nach wochenlangen Verhandlungen haben sich die Spitzen von Union und SPD auf die Verschärfung geeinigt. Die Position des Bundeskanzlers Friedrich Merz, dass „der Sozialstaat, wie wir ihn heute haben“ volkswirtschaftlich „nicht mehr finanzierbar“ sei, wurde zum Leitsatz.

Während für den Sozialstaat das Geld fehlt, werden Unternehmen weiter geschont: Auf dem CDU-Parteitag in Niedersachsen am 23. August bekräftigte Merz: „Mit dieser Bundesregierung unter meiner Führung wird es eine Erhöhung der Einkommenssteuer für die mittelständischen Unternehmen in Deutschland nicht geben“.  

Die „Sozialstaatsgefährder“ im TV 

Einige Medien hatten zuvor die Sozialstaatsgefährder markiert: jene, die Sozialleistungen erschleichen oder missbrauchen. Fernsehsender bedienen dieses Narrativ seit Jahren mit Formaten wie „Amt austricksen statt arbeiten“, „Hartz IV statt in die Schule“ oder „Betrüger auf der Spur“. Ein Grundton, der jede Grundsicherung als Bedrohung erscheinen lässt.

Wählen die dümmsten Kälber ihre Schlächter wirklich selber? 

„Die dümmsten Kälber wählen ihre Schlächter selber“, heißt es oft, wenn der AfD-Wahlzuspruch trotz ihrer sozialpolitischen Vorstellungen reflektiert wird. Das Bonmot, angelehnt an Bertolt Brechts Parodie „Kälbermarsch“ von 1943, unterstellt, dass die Betroffenen gegen ihre eigenen Interessen wählen. 

Doch die AfD-Wählerschaft besteht eben nicht nur aus jenen, die selbst die Sanktionen fürchten müssten. Analysen zeigen, dass die AfD vor allem von Arbeitenden und Angestellten gewählt wird. Außerdem ignoriert das Bonmot, dass die „Kälber“ glauben könnten, nur die anderen müssten sanktioniert werden – jene, die angeblich zu viel oder unberechtigt Transferleistungen beziehen.

Studie belegt fehlendes Mitgefühl 

Eine Studie der Hans-Böckler-Stiftung bestätigte im August auch, dass AfD-Wählende wenig Mitgefühl für Betroffene und Bedürftige zeigen. 64 Prozent äußerten „explizit kein Mitgefühl“ für Geflüchtete aus der Ukraine, sie sollten sich „hintenanstellen“. 66 Prozent meinten, Sozialhilfeempfänger lebten „auf Kosten der Gesellschaft ein bequemes Leben“. Die Studie stellte zudem fest, dass die Ablehnung besonders bei jenen ausgeprägt ist, die sich von der Gesellschaft „systematisch vernachlässigt“ fühlen, während andere „mehr bekommen als sie verdienen“. 

Leistung muss sich lohnen?! 

Die Beschlüsse der Bundesregierung und die Berichte der Medien befeuern diese Mentalität. Sie liefern Sündenböcke und Schuldige. Der Applaus für strengere Kontrollen, Leistungskürzungen und die Anrechnung von Eigenvermögen hallt laut aus dem Milieu der „rohen Bürgerlichkeit“ (Wilhelm Heitmeyer). Ihr Credo: Leistung muss sich lohnen. Diese Haltung wird heute als selbstverständlich und gerecht verkauft. Schließlich sei jede*r des eigenen Glückes Schmied. 

Friedrich Merz griff dieses Credo am 9. Oktober in Berlin auf: „Wir werden die Mitwirkungspflichten deutlich verstärken, wir werden auch die Sanktionsmöglichkeiten deutlich erhöhen.“ Die 5,5 Millionen Bürgergeld-Beziehenden müssen sich auf strenge Auflagen einstellen. 

Bundeswirtschaftsministerin Bärbel Bas betonte: „Wir verschärfen die Sanktionen bis an die Grenze dessen, was verfassungsrechtlich zulässig ist.“ Die SPD-Politikerin versicherte jedoch, Härtefälle würden berücksichtigt. Schimmert da etwas Rot durch das Schwarze? 

Ablenkungsmanöver

Der Kurs gegen vermeintliche Sozialbetrüger verklärt die eigentlichen Gerechtigkeitsprobleme: die massive Ungleichverteilung von Vermögen, Besitz und Erbe. Nicht Eigenengagement, sondern die Geburtslotterie entscheidet über Status und Chancen. Édouard Louis bringt es in der „Der Absturz“ (2025) auf den Punkt: „Ungerechtigkeit ist nichts anderes als der ungleiche Zugang dazu, Fehler machen zu dürfen“. 

Doch Kanzler Merz hält es im Geist des Neoliberalismus für wirtschaftsgefährend, diese Probleme anzugehen. Yasmin Fahimi, Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB), gehört zu den wenigen, die diesem Kurs keinen Applaus spenden. „Wir sind mitten in einer der größten wirtschaftlichen Stagnationsphasen seit Dekaden, aber wir diskutieren vor allem über Bürgergeld und Kürzungen im Sozialsystem“, sagte sie dem Redaktionsnetzwerks Deutschland (RND)

Nur 0,6 Prozent sind Totalverweigerer

Dieser Irrtum zeigt sich in den Zahlen: Nur 0,6 Prozent der Bürgergeld-Beziehenden verweigern sich komplett, so Fahim – keine relevante Größe. Weitaus größere Summen ließen sich durch die konsequente Verfolgung von Steuer- und Subventionsbetrug im Bank-, Wirtschafts- und Bauwesen einbringen. Diese Skandale kosten den Staat Millionen. Doch wer darauf hinweist, wird schnell des Sozialneids bezichtigt – ein bewusstes Ablenkungsmanöver. Eine Sozialneidargumentation ist der Hinweis aber nicht, wenn die Gewinne weiter privatisiert und die Verluste sozialisiert werden. 

Die Weichen sind gestellt: Politik und Wirtschaft fordern bereits weitere Einschnitte bei Renten, Arbeitszeiten, Bürokratie und Mitbestimmung. Schwarz-Rot forciert einen autoritären Marktradikalismus. Die AfD wird davon profitieren. 

TEILEN

Autor*innen

Andreas Speit ist Journalist und Autor und schreibt regelmäßig für die taz (tageszeitung). Seit 2005 ist er Autor der Kolumne "Der rechte Rand" in der taz-nord, für die er 2012 mit dem Journalisten-Sonderpreis "Ton Angeben. Rechtsextremismus im Spiegel der Medien" ausgezeichnet wurde. Regelmäßig arbeitete er für Deutschlandfunk Kultur und WDR. Er veröffentlichte zuletzt die Werke  "Verqueres Denken – Gefährliche Weltbilder in alternativen Milieus" (2021) "Rechte Egoshooter" (Hg. mit Jean-Philipp Baeck, 2020), "Völkische Landnahme" (mit Andrea Röpke, 2019), "Die Entkultivierung des Bürgertums" (2019). Im Campact-Blog schreibt er als Gast-Autor über Rechtsextremismus und rechte Milieus. Alle Beiträge

Auch interessant

Pressemitteilung Warum engagieren sich Frauen in der AfD? 
Pressemitteilung „Team Freiheit“ – Die Honoratiorenpartei
Pressemitteilung Was bedeutet Pflegegrad 1 – und warum ist er so wichtig für Betroffene?
Pressemitteilung Erika Kirk, die Turbo-Tradwife
Pressemitteilung Was macht eigentlich ein Integrationsrat?
Pressemitteilung Wer in Deutschland Waffen besitzen darf
Pressemitteilung Müller, Backwerk, Red Bull: Diese Unternehmer unterstützen Rechtsextreme
Pressemitteilung Weil der Sozialstaat schützt, kostet er Geld
Pressemitteilung Warum Klimaschutz nicht ohne Demokratieschutz geht
Pressemitteilung Rechtsextremismus, Hass und Hetze in Videospielen