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Mitten ins Gesicht

Seit Jahren steigen in Deutschland die polizeilich erfassten Übergriffe gegen queere Menschen. Woher kommt die Gewalt? Und was lässt sich dagegen unternehmen?

Hand in Hand gegen Gewalt: In Deutschland gibt es einen drastischen Anstieg von queerfeindlichen Übergriffen – was Du tun kannst?
Die Gewalt gegen queere Menschen nimmt zu. Was es nun braucht, ist eine Gesellschaft, die nicht wegschaut. / Foto: Imago

Es war auf einer Uni-Party. Ich saß mit meinem Freund auf einem Sofa in der Ecke, wir redeten, lachten, küssten uns. Aus den Augenwinkeln hatte ich schon wahrgenommen, dass uns zwei Typen beobachteten. Aber ich war frisch verliebt, glücklich, dachte mir nichts dabei. Bis die beiden auf einmal vor uns standen. Wir sollten aufhören und verschwinden, sagten sie. Dann holte einer der beiden aus – und schlug mir seine Bierflasche ins Gesicht. 

Zur Polizei gegangen bin ich damals nicht. Warum, das kann ich heute gar nicht mehr sagen. Weil die Typen schnell verschwunden waren und ich sie nicht wiedererkannt hätte. Weil ich den Schlag als Einzelfall eines Idioten einordnete. Weil ich das Gefühl hatte, Glück gehabt zu haben – schließlich war mir lediglich die Oberlippe aufgeplatzt, es hätte schlimmer kommen können. 

Heute wäre ich gegangen. Die Polizei hätte die beiden vielleicht nicht gefunden, aber der Vorfall hätte es in die Polizeistatistik geschafft. Mag banal klingen, ist es aber nicht. Denn nur wenn die wahre Dimension der Gewalt gegen queere Menschen bekannt ist, wird sich etwas ändern – politisch und gesellschaftlich.  

Der Tod von Malte und der Anschlag auf Cristina – Einzelfälle ohne Verbindung? Nein, das Problem ist strukturell. Lies hier den ganzen Beitrag von Gast-Autorin Inken Behrmann:

Drastischer Anstieg von queerfeindlichen Übergriffen

870 Delikte gegen die sexuelle Orientierung hat die Polizei 2021 erfasst – darunter 164 Gewaltdelikte. Zehn Jahre zuvor waren es nur 148 Vorfälle, davon 38 Gewaltdelikte. Für diesen drastischen Anstieg gibt es mehrere Gründe. 

Unsere Gesellschaft hat sich in den letzten Jahren polarisiert. Der Ton wird rauer, die Intoleranz gegenüber Minderheiten wächst. Gerade Rechtspopulismus und Rechtsextremismus wirken sich auf Hasskriminalität aus. Die Akteure aus der Szene bedienen sich alter Verhaltensmuster, denn sie wissen: Was fremd und unbekannt ist, macht Angst – und kann Gewalt wecken. 

Der andere Erklärungsansatz ist optimistischer. Immer mehr queere Menschen trauen sich, zur Polizei zu gehen. Bei ihnen steigt das Vertrauen in die Strafverfolgungsbehörden, die Taten ernst zu nehmen und wirklich zu helfen. Mittlerweile gibt es immer mehr Ansprechpersonen für Lesben, Schwule, Bixexuelle, Trans* und Inter*, die Misstrauen abbauen und Opfer von Hasskriminalität unterstützen.

Vieles bleibt im Dunklen

Doch die offiziellen Zahlen sind nur ein Teil der Wahrheit. Die Dunkelziffer ist deutlich höher – sie wird auf 80 bis 90 Prozent geschätzt. Das Problem: Viele Betroffene zeigen Übergriffe aus Angst vor ausbleibender Unterstützung nicht an. Andere schämen sich, trauen sich deshalb nicht zur Polizei. Dabei gehen queere Frauen noch seltener zur Polizei als Männer – viele empfinden das Unrecht, das ihnen geschieht, fast schon als normal, zumindest nicht als anzeigenwürdig.

Alle Beiträge im Blog zu den Themen LGBTQAI+ und queeres Leben liest Du hier:

Hasskriminalität, das muss nicht gleich der Schlag ins Gesicht sein oder der Angriff auf der Straße. Beleidigungen wie „scheiß Lesbe“, sexuelle Anspielung wie „ich besorg’s dir mal richtig“ oder Bedrohungen – das alles ist Hasskriminalität und gehört angezeigt. Denn es handelt sich hier nicht einfach „nur“ um Beleidigungen, sondern kann zu schweren psychischen Schäden führen. Die betroffenen Menschen fühlen sich bedroht und unsicher, ziehen sich zurück und werden im schlimmsten Fall unsichtbar. Die Täter – fast immer sind es Männer – hätten ihr Ziel erreicht.

Hass wird bestraft

Um Hasskriminalität gegen queere Menschen künftig besser zu verfolgen, will die Bundesregierung den Tatbestand ausdrücklich ins Strafgesetzbuch aufnehmen. Das hat sie im Dezember 2022 beschlossen. Dazu wird Paragraf 46 des Strafgesetzbuches um „geschlechtsspezifische“ sowie „gegen die sexuelle Orientierung gerichtete“ Tatmotive ergänzt – als weitere Beispiele für menschenverachtende Beweggründe. „Denn was Schwarz auf Weiß im Gesetzestext steht, findet in der Rechtspraxis mehr Beachtung“, sagt Sven Lehmann, Queer-Beauftragter der Bundesregierung.

Die Bundesregierung plant noch mehr

Das ist ein richtiger Schritt – reicht aber noch nicht aus. Das weiß auch Sven Lehmann. Im Aktionsplan „Queer leben“ der Bundesregierung nimmt das Kapitel Sicherheit deshalb viel Raum ein. Unter anderem will die Bundesregierung: 

  • die Anzeigenbereitschaft von Opfern queerfeindlicher Übergriffe weiter erhöhen,
  • Menschen, die Hassrede im Netz erfahren, stärker unterstützen,
  • queere Geflüchtete besser schützen,
  • queere Jugendliche vor sexualisierter Gewalt bewahren,
  • und die Gewaltprävention in Gefängnissen verbessern.

Wir alle sind gefragt

Was es aber vor allem braucht, ist eine Gesellschaft, die nicht wegschaut. (Was Du tun kannst, um LGBTQIA+ zu unterstützen, erfährst Du hier.) Menschen, die eingreifen, wenn das lesbische Paar in der U-Bahn bedroht wird, der trans Mann bepöbelt, die Händchen haltenden Männer auf der Straße angegriffen werden. Dazu braucht es Mut und Solidarität – von uns allen.

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Autor*innen

Henrik Düker ist Politikwissenschaftler und Soziologe. Bei Campact arbeitet er als Redakteur, im Blog beschäftigt er sich vor allem mit LGBTQIA+-Themen. Alle Beiträge

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