Globale Gesellschaft LGBTQIA* Protest
Queerer Protest: Act up
In den 1980er Jahren traumatisierte die Aids-Pandemie die queere Gemeinschaft. Weil die US-amerikanische Gesellschaft wegsah oder die Krankheit als "Homosexuellen-Seuche" abtat, schlossen sich Aktivist*innen in der Organisation Act up zusammen – und veränderten das Land.
In welcher Zeit würdest Du gerne mal leben? Taucht diese Frage auf, muss ich kurz schlucken. Aus der Perspektive eines schwulen Mannes sind die letzten Jahrhunderte zum Glück Vergangenheit. Geächtet, ausgegrenzt, verfolgt, eingesperrt oder gar getötet – alles Schicksale, auf die ich keine große Lust habe.
Doch es gibt eine Zeit, in der ich wirklich gerne einmal vorbeischauen möchte – und das sind die 80er Jahre des letzten Jahrhunderts. Der Grund: In einem der dunkelsten Kapitel der queeren Geschichte – dem Aufkommen von AIDS, dem Massensterben, der Ignoranz – fanden Menschen den Mut und die Kraft, sich gegen Stigmatisierung und Ungerechtigkeit aufzulehnen.
Von Gay Men’s Health Crisis zu Act up
Einer von ihnen war Larry Kramer. Der Schriftsteller und Aktivist gründete 1982 mit anderen in New York die Gay Men’s Health Crisis. Damals breitete sich vor allem in San Francisco und New York unter schwulen Männern eine gefährliche Krankheit aus, die ab 1982 unter dem Namen Aids Schrecken verbreitete. Die Organisation kümmerte sich vor allem um Aufklärung, Prävention und Pflege.
Doch obwohl immer mehr Menschen erkrankten und starben, ignorierten US-Präsident Ronald Reagan und seine Administration die Gefahr über Jahre; sein Sprecher nannte es sogar die „Rache der Natur an den Schwulen“. Larry Kramer und andere wollten das nicht mehr hinnehmen und gründeten 1987 eine neue Gruppe, die kurz darauf als „Act up“ (Aids Coalition To Unleash Power) landesweit bekannt wurde. Ihr Ziel: Politik und Gesellschaft aufrütteln – und so dafür zu sorgen, dass niemand mehr von der Aids-Krise und ihren Folgen die Augen verschließen kann.
Mit zivilem Ungehorsam in die Medien
Act up legte sich mit allen an. Pharmakonzernen, die zu hohe Preise für ihre Medikamente verlangten. Regierungsbehörden, die die Zulassung neuer Medikamente verschleppten. Der Kirche, die sich gegen Aufklärung und Prävention stellte. Vor allem schafften es die Aktivist*innen, das Thema Aids in die Nachrichten zu bringen. Dabei halfen ihnen kreativen Aktionen – und geschickte Öffentlichkeitsarbeit: Sie luden die Medien schon vor den Aktionen ein und versorgten die Journalist*innen mit ausreichend Material und Hintergrundinfos. Im Gegenzug sorgten die dafür, dass sich die Botschaften von Act up im Land verbreiteten.
Schnell gründeten sich weitere Ableger in anderen Städten der USA und auch im Ausland, doch Act up New York blieb das Zentrum der Bewegung. Nach dem Motto „Aktionen werden immer, immer, immer so geplant, dass sie dramatisch genug sind, um die öffentliche Aufmerksamkeit zu erregen“ schaffte es die Gruppe in den Folgejahren immer wieder, mit ihrem zivilen Ungehorsam die Öffentlichkeit zu erreichen: Sie überzogen das Haus des extrem homophoben Senators Jesse Helms mit einem riesigen Kondom, demonstrierten vor und in der New Yorker St. Patrick’s Cathedral und verstreuten die Asche der an Aids Verstorbenen vor dem Weißen Haus.
Willkommen im Campact-Blog
Schön, dass Du hier bist! Campact ist eine Kampagnen-Organisation, mit der über 3 Millionen Menschen für progressive Politik eintreten. Im Campact-Blog schreiben das Team und ausgezeichnete und versierte Gast-Autor*innen über Hintergründe und Einsichten zu progressiver Politik.
„Drugs Into Bodies“
Doch öffentlichkeitswirksame Aktionen waren nur der eine Strang, den Act up verfolgte. Die Organisation – der übrigens längst nicht nur schwule Männern, sondern auch Feministinnen, engagierte lesbische Frauen und liberale Heteros angehörten– kümmerte sich um Unterkünfte für obdachlose Aidskranke, sammelte Spenden und half, New Yorks erstes erfolgreiches Nadelaustausch-Programm aufzubauen.
Eine besondere Rolle spielte das Treatment and Data Committee der Gruppe. Es forderte ein schnelleres Zulassungsverfahren für Medikamente und setzte sich mit dem Slogan „Drugs Into Bodies“ dafür ein, dass Aidskranke Zugang zu experimentellen, aber dennoch einigermaßen sicheren Medikamenten erhielten. Die US-amerikanische Arzneimittelbehörde FDA übernahm schließlich diesen Ansatz – Act up änderte damit grundlegend, wie klinische Studien in den USA durchgeführt werden.
Heute ist es still geworden um Act up, auch wenn die Organisation in den USA noch aktiv ist. Die deutsche Gruppe hat sich bereits in den 1990er Jahren wieder aufgelöst. Der Handlungsdruck hat aufgrund veränderter gesellschaftlicher Rahmenbedingungen, neuer Medikamente und verbesserter Zulassungsverfahren deutlich abgenommen. Hinzu kamen interne Streitigkeiten über die Ausrichtung der Gruppe, welche die Organisation veränderten.
Act up: Helden statt Opfer
Mich fasziniert an der Geschichte von Act up, dass queere Menschen und Aidskranke hier keine Opfer sind. Sie sind die Held*innen der Erzählung, die zusammenhalten und sich gegen alle Widerstände auflehnen – kreativ, aber vor allem entschlossen, stolz und unnachgiebig.
Auf Instagram schaue ich regelmäßig auf der Seite von The Aids Memorial vorbei. Freunde und Familienmitglieder erzählen dort von Menschen, die an den Folgen von Aids gestorben sind. Mich berührt es immer wieder, diese Lebensgeschichten zu lesen – und dann in den Kommentaren zu entdecken, dass es auch nach 20 oder 30 Jahren noch Menschen gibt, die sich an die Porträtierten erinnern.
Es ist heute schwer vorstellbar, wie sehr die erste Generation an Aids erkrankter Menschen unter Stigmatisierung, Ausgrenzung und Hass gelitten hat. Der Kampf gegen Aids ist noch lange nicht gewonnen, aber dank Gruppen wie Act up gibt es heute nicht nur Schutz und wirksame Therapien, sondern auch eine veränderte gesellschaftliche Wahrnehmung des Virus. Die „Schwulenpest“-Erzählung der Anfangszeit ist Geschichte.