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Die Sorgen der Bevölkerung ernst nehmen

Warum werden die „Sorgen der Bevölkerung“ immer dann betont, wenn es um Migration geht? Viele Menschen in Deutschland stehen vor ganz anderen Herausforderungen: steigenden Preisen, unsicheren Renten oder patriarchaler Gewalt.

Eine große Menschenmenge versammelt sich nachts vor dem Reichstagsgebäude in Berlin, hält beleuchtete Handys und Protestschilder hoch, mit Botschaften wie „Feminismus statt Faschismus“ und „Niemand schiebt meine Freunde ab.“
Die „Sorgen der Bevölkerung" ernst nehmen. Wenn diese Floskel herangezogen wird, geht es oft um ein Thema: Migration. Viele Menschen bewegt aber etwas ganz anderes – etwa die Angst vor der AfD. Anfang des Jahres zog es Hunderttausende aus Protest gegen die rechtsextreme Partei auf die Straße. Foto: Chris Grodotzki / Campact

Kürzlich schrieb Cem Özdemir in einem FAZ-Gastbeitrag, er mache sich Sorgen um seine Tochter, wenn sie „Männern mit Migrationshintergrund“ begegne. Zu Recht wurde darauf hingewiesen, dass patriarchale Gewalt ein großes Problem ist, allerdings in allen Teilen der Gesellschaft. Es gibt keine höhere Täter-Quote bei Menschen mit Migrationshintergrund. Für rassistische User in den sozialen Netzwerken war die Äußerung dennoch eine willkommene Gelegenheit, mit grüner Rückendeckung gegen Migrant*innen zu hetzen und sich hinter dem Vorwand zu verstecken, man müsse eben „die Sorgen der Bevölkerung“ ernst nehmen.

Lena Rohrbach ist Fachreferentin für Menschenrechte im digitalen Zeitalter und Rüstungsexportkontrolle bei Amnesty International Deutschland.

Die populistische Erzählung der „schweigenden Mehrheit“

Diese Art der Rhetorik folgt der populistischen Erzählung, man spreche für eine schweigende Mehrheit, und instrumentalisiert diese für die eigene Agenda. Auch die AfD nutzt sie gern. Es wird dabei nicht berücksichtigt, ob wirklich viele Menschen diese Sorge teilen und ob es dafür – falls dem so ist – berechtigte Gründe gibt oder ob sie ein Produkt medialer und politischer Debatten ist.

In den Debatten der letzten Monate werden die „Sorgen der Bevölkerung“ fast ausnahmslos zitiert, um eine immer unmenschlichere Migrationspolitik zu fordern, die tatsächliche Probleme aber nicht adressiert. Mit dem sogenannten Sicherheitspaket sollen nach dem schrecklichen Anschlag von Solingen beispielsweise Maßnahmen umgesetzt werden, die Grundrechte und Asylrecht untergraben, von denen aber keine einzige die Tat verhindert hätte. Das subjektive Sicherheitsgefühl der Menschen schwindet, obwohl Deutschland de facto immer sicherer wird.

Berechtigte Sorgen, die Aufmerksamkeit verdienen

Doch viele Menschen in Deutschland machen sich jeden Tag Sorgen, die tatsächlich berechtigt sind. Statt über Migration zu debattieren, ohne Probleme zu lösen, sollten Politik und Medien diesen Sorgen Aufmerksamkeit schenken. Hier sind einige Beispiele:

  • Armut bei Kindern: Jedes fünfte Kind in Deutschland lebt in Armut. Arme Kinder und ihre Familien machen sich Sorgen darum, ob sie sich neue Schuhe oder den nächsten Schulausflug leisten oder schlichtweg genug gesundes Essen auf den Tisch stellen können.
  • Ängste vor der AfD: Viele Menschen in Deutschland fürchten die Wahlerfolge und die Pläne der AfD. Das zeigten die Hunderttausend Teilnehmer*innen der Demos im Frühjahr, aber auch eindeutige Studienergebnisse. Menschen mit Migrationshintergrund denken zunehmend sogar über Abwanderung nach.
  • Gesundheitsrisiken in Schulen: Meine Kollegin M. sorgt sich um die Gesundheit ihres Kindes, wenn es in die Schule kommt. Ihre Einzugsschule hat ein seit Jahren ungelöstes Problem mit Schimmel an den Wänden.
  • Finanzielle Unsicherheit: Immer mehr Menschen sorgen sich darum, ihren Lebensstandard nicht mehr halten zu können. Junge Menschen rechnen nicht damit, dass ihre Rente ausreichen wird.
  • Sicherheit: Menschen, die öffentlich gegen Rassismus oder beim Christopher Street Day demonstrieren, machen sich zunehmend Sorgen um ihre Sicherheit – nicht nur, aber insbesondere in Ostdeutschland außerhalb der Großstädte.
  • Gewalt gegen Frauen: Nahezu alle Frauen machen sich Sorgen um patriarchale Gewalt. 83 Prozent der Frauen zwischen 16 und 39 Jahren in der EU schränken deshalb ihre eigene Freiheit ein. Die größte Gefahr für Frauen ist der eigene Partner.
  • Steigende Preise: 76 Prozent der Bevölkerung machen sich große Sorgen über die gestiegenen Preise, vorwiegend bei Lebensmitteln, Heizung oder Reparaturen.
  • Verkehrssicherheit: Meine Freundin J. ist besorgt um die Sicherheit ihres Kindes, das mit dem Rad zur Schule fährt. Der Bürgersteig ist sehr schmal und die stark befahrene Straße hat keinen Fahrradweg.
  • Klimaangst: Die Sorge vor den Folgen der Klimakrise ist so groß und weitverbreitet, dass sie mit „Klimaangst“ sogar einen eigenen Namen hat.

Um nicht ungerecht zu sein oder falsche Politikverdrossenheit zu fördern: Zu all diesen Themen lassen sich Medienberichte finden und engagierte Politiker*innen diskutieren dazu in Fachausschüssen. Doch die öffentliche Debatte der letzten Monate dominierte allein ein Thema: Die AfD trieb die anderen Parteien mit der Forderung nach dem weiteren Abbau des Asylrechts vor sich her.

Unterbietungswettbewerb in Unmenschlichkeit

Und die anderen Parteien übernahmen das Thema scheinbar bereitwillig. Seit Monaten erleben wir einen öffentlichen Unterbietungswettbewerb in Unmenschlichkeit. Im sogenannten Sicherheitspaket findet sich etwa der Vorschlag, Geflüchteten, für deren Asylantrag ein anderer EU-Staat zuständig ist, nach zwei Wochen alle Sozialleistungen zu streichen. Konkret: Menschen in Deutschland, die meist gar keine Kontrolle darüber haben, ob und wann das gemäß Dublin-Verfahren zuständige andere EU-Land sie wieder aufnehmen würde, sollen ohne Essen und Kleidung auf die Straße gesetzt werden – Kinder inklusive.

Wie konnte es geschehen, dass die AfD auf breiter Front die Themen setzen darf? Dafür gibt es mehrere Gründe:

Erstens hat die Bundesregierung in ihrer Legislatur bei den sozialen Themen versagt. Das geplante Leuchtturmprojekt Kindergrundsicherung wurde klein gespart und Opfer von Parteistreitigkeiten. Das erfolgreiche 9-Euro-Ticket stieg auf 49 Euro, und selbst diese Finanzierung will Volker Wissing streichen. Wähler*innen konnten Politik also nicht als wirksam erleben, ihren realen Problemen zu begegnen.

Regierung nimmt Stellvertreterdebatte über Migration dankend an

Zweitens hat die Bundesregierung kaum Erfolge zu anderen Themen vorzuweisen und scheint eine Stellvertreterdebatte über Migration fast dankbar anzunehmen. Drittens hat das sozialpolitische Versagen die gesellschaftliche Ungleichheit weiter vorangetrieben. Ungleichheit ist zwar nicht der einzige, aber dennoch ein wesentlicher Faktor für einen Rechtsruck. Viertens hat die Zivilgesellschaft alle Hände voll zu tun, um gegen menschenfeindliche Politik zu demonstrieren, die schlimmsten Vorschläge abzuwenden und über die AfD aufzuklären. Es ist uns als Zivilgesellschaft deshalb leider oft nicht gelungen, andere Themen zu setzen. Da wir uns in einem Abwehrkampf gegen die Symptome des Rechtsrucks befinden, bleibt kaum Raum, dessen Ursachen zu bekämpfen. Ein Teufelskreis.

Was tun? Die Bundesregierung hat vor den nächsten Wahlen noch eine zwar kurze, aber nicht zu kurze Zeit, um zu zeigen, dass sie die begründeten Sorgen der Menschen ernst nehmen kann. Als Zivilgesellschaft muss es uns gelingen, gleichzeitig Symptome und Ursachen menschenfeindlicher Politik zu bekämpfen. Dafür müssen sozialpolitische Themen auf die Agenda. Jetzt.

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Autor*innen

Lena Rohrbach ist Referentin für Menschenrechte im digitalen Zeitalter und Rüstungsexportkontrolle bei Amnesty International. Sie hat als Campaignerin für Campact und im Journalismus gearbeitet und war Sprecherin der Piratenpartei. Lena hat Philosophie, Kulturwissenschaft und Geschichte in Berlin und International Human Rights Law an der University of Nottingham studiert. Auf Twitter ist sie als @Arte_Povera unterwegs. Alle Beiträge

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